Die Steuerung des Wachstums des Auges und das Genie der nächtlichen Anpassung der Sehschärfe

  • Erstellt von Dr. med. Andres Bircher

Man nimmt an, dass das Wachstum des Auges sowohl über Vorgänge, die über den Sehnerv und den Ciliarnerv vor sich gehen, als auch über eine Steuerung innerhalb des Auges geschieht[1],[2]. Das Wachstum des Auges wird durch eine Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin aus den Netzhautzellen reguliert.

Medikamente, welche auf Dopaminrezeptoren einwirken, beeinflussen das Wachstum des Augenbulbus. Auch gibt es Hinweise, dass das Nervengift Nikotin und der Neurotransmitter Gammaaminobenzoesäure (GABA) das Längenwachstum des Augenbulbus verstärken und damit auch eine bestehende Myopie[3],[4]. Atropin und Pirenzepin blockieren die Rezeptoren für Acetylcholin. In Experimenten verhinderten sie das Entstehen einer Myopie. Doch versteht man noch nicht, wie dies zustande kommt[5]. Nikotin blockiert die Adenosinrezeptoren der Nervenzellen in der Netzhaut und im Gehirn. Dieselbe Wirkung hat 7-methyl Xanthin. In einer randomisierten, Placebo kontrollierten Studie wurde die Wirkung dieses Xanthins an 9 bis 13 jährigen Kindern untersucht. Durch 400 mg 7-Methylxanthin pro Tag nahm die Kurzsichtigkeit bei 59% der Kinder nicht mehr zu und es wurden keine Nebenwirkungen beobachtet. Doch nach absetzen dieser Therapie ging die Progression der Myopie weiter wie zuvor[6]. 7-Methylxanthin entsteht im Stoffwechsel aus Koffein.

Die Sehzellen der Retina sind Nervenzellen. Wie diejenigen des Gehirns schützen sie sich vor einer Überlastung, indem sie Adenosin ausschütten und dieses hemmt den Eingang zu starker Sinneseindrücke. Koffein verdrängt das Adenosin an seinen Rezeptoren. Dadurch wird der natürliche Schutzvorgang der Nervenzellen im Gehirn und in der Retina gehemmt.
Entfernt man Kindern Abdeckungen oder die Linsen noch in der Wachstumsphase, so steuert die Wachstumsregulation des Auges wieder in Richtung einer Normalsichtigkeit (Emmetropie). Diese Fähigkeit ist bei Tieren sehr ausgeprägt: so erholen sich Küken, Meerschweinchen, Spitzhörnchen und Primaten in ihrer Jugend selbst von einer drastischen Fehlsichtigkeit[7],[8]. Dabei wird der Augapfel nicht einfach nur verformt, sondern die Zellstruktur der Lederhaut, der Sklera, wird umgebaut. Noch weiss man nicht, ob sich diese Erkenntnisse aus Tierversuchen auch auf den Menschen übertragen lassen[9].
Das Auge hat die Fähigkeit, sich immer wieder einer Normalsichtigkeit (Emmetropie) anzunähern. In der Kindheit wächst das Auge in Schüben, synchron mit dem Schlaf - Wachrhythmus: Tagsüber verlängert sich der Augapfel stets und nachts schrumpft er wieder. In der Kindheit wächst das Auge tagsüber schneller als es nachts schrumpft, so dass seine Grösse sich dem Wachstum des Kindes laufend anpasst[10],[11],[12]. Diese Wachstumsraten variieren zwischen verschiedenen Menschen und sind nicht in beiden Augen genau gleich. Beim Erwachsenen sind sie viel geringer. Auch wenn ein Auge abgedeckt wird, zum Beispiel bei einem schielenden Kinde und durch das Tragen von Sehhilfen, vermindert sich die nächtliche Schrumpfung des Augapfels, findet gar nicht statt oder sie kehrt sich sogar in ein Längenwachstum um[13]. Dadurch verlängert sich der Augapfel dauerhaft und dies setzt sich so lange fort, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist, indem das Auge sich dem, was es jeden Tag sieht, anpasst, damit die Länge des Augapfels wieder besser zu den Brechwerten der Linse und der Hornhaut passt. Diese Fähigkeit des Auges ist genial. Man nennt sie «Emmetropisierung». Das Auge ist also fähig, die Länge seines Bulbus den Brechwerten der Linse und der Hornhaut ständig anzupassen, damit es normalsichtig wird. Trägt man eine Sehhilfe, so berücksichtigt das Auge aber deren Wirkung, so dass es ein Scharfsehen mit der Sehhilfe anstrebt[14],[15],[16]. Damit bewegen sich die tageszeitlichen Schwankungen der Bulbuslänge um die Fehlsichtigkeit herum, da die optische Korrektur durch die Sehhilfe verhindert, dass das Auge die Normalsichtigkeit anstreben kann[17],[18],[19].
 



[1] Troilo D. et al.: Visual deprivation causes myopia in chicks with optic nerve section. Current Eye Research. Band 6, Nr. 8, August 1987, S. 993–999
[2] Wildsoet C.: Neural pathways subserving negative lens-induced emmetropization in chicks--insights from selective lesions of the optic nerve and ciliary nerve. Current Eye Research. Band 27, Nr. 6, Dezember 2003, S. 371–385
[3] Schaeffel F. et al.: 6-Hydroxy dopamine does not affect lens-induced refractive errors but suppresses deprivation myopia. Vision Research. Band 34, Nr. 2, Januar 1994, S. 143–149
[4] Stone R.A. et al.: Effects of nicotinic antagonists on ocular growth and experimental myopia. Investigative Ophthalmology and Visual Science. Band 42, Nr. 3, März 2001, S. 557–565
[5] McBrien N.A. et al.: Scleral remodeling during the development of and recovery from axial myopia in the tree shrew. Investigative Ophthalmology and Visual Science. Band 41, Nr. 12, November 2000, S. 3713–3719
[6] Trier K. et al.: Systemic 7-methylxanthine in retarding axial eye growth and myopia progression: a 36-month pilot study.  J Ocul Biol Dis Infor. 2008 Dec;1(2-4), S. 85–93. Epub 2008 Nov 4
[7] Zhou X. et al.: Recovery from axial myopia induced by a monocularly deprived facemask in adolescent (7-week-old) guinea pigs. Vision Research Band 47, Nr. 8, April 2007, S. 1103–1111
[8] Smith E.L.: Spectacle lenses and emmetropization: the role of optical defocus in regulating ocular development. Optometry and Vision Science. Band 75, Nr. 6, Juni 1998, S. 388–39
[9] Zadnik K. et al.: How applicable are animal myopia models to human juvenile onset myopia? Vision Research. Band 35, Nr. 9, Mai 1995, S. 1283–1288
[10] Weiss S. et al.: Diurnal growth rhythms in the chicken eye: relation to myopia development and retinal dopamine levels. Journal of Comparative Physiology A. Band 172, Nr. 3, 1993, S. 263–270
[11] Liu I.H. et al.: Twenty-four-hour change in axial length in the rabbit eye. Investigative Ophthalmology and Visual Science. Band 39, Nr. 13, Dezember 1998, S. 2796–2799,
[12] Nickla D.L. et al. : Diurnal rhythms in intraocular pressure, axial length, and choroidal thickness in a primate model of eye growth, the common marmoset. Investigative Ophthalmology and Visual Science. Band 43, Nr. 8, August 2002, S. 2519–2528
[13] Weiss S. et al.: Diurnal growth rhythms in the chicken eye: relation to myopia development and retinal dopamine levels. Journal of Comparative Physiology A. Band 172, Nr. 3, 1993, S. 263–270
[14] Hung L.F. et al.: Spectacle lenses alter eye growth and the refractive status of young monkeys. Nature Medicine. Band 1, Nr. 8, August 1995, S. 761–765
[15] Wallman J. et al.: Monkey eyes grow into focus. Nature Medicine. Band 1, Nr. 8, August 1995, S. 737–739
[16] Whatham A.R. et al.: Compensatory changes in eye growth and refraction induced by daily wear of soft contact lenses in young marmosets. Vision Research. Band 41, Nr. 3, Februar 2001, S. 267–273
[17] Liu J.H. et al.: Twenty-four-hour change in axial length in the rabbit eye. Investigative Ophthalmology and Visual Science. Band 39, Nr. 13, Dezember 1998, S. 2796–2799
[18] McBrien N.A. et al.: Optical correction of induced axial myopia prevents emmetropisation in tree shrews. Investigative Ophthalmology and Visual Science. Band 37, Suppl. 1000, 1996
[19] Wildsoet C.F. et al.: Optical correction of form deprivation myopia inhibits refractive recovery in chick eyes with intact or sectioned optic nerves. Vision Research. Band 40, Nr. 23, 2000, S. 3273–3282