Essstörungen, Bing-Eating und die Anorexia nervosa

  • Erstellt von Dr. med. Andres Bircher

Bei allen Essstörungen liegt ein problematischer Umgang mit der Nahrungsaufnahme und dem eigenen Selbstbild vor. Während bei der Anorexia nervosa das Untergewicht dominiert, stehen bei der Bulimie Heisshungeranfälle mit selbst ausgelöstem Erbrechen im Vordergrund, bei normalem Körpergewicht. Die Bing-Eating Störung ist definiert als Heisshungeranfälle ohne Erbrechen und Übergewicht. Diese verschiedenen Essstörungen können ineinander übergehen.

Unzufriedenheit mit der eigenen Figur, der Wunsch, dünner zu sein, Diäten und Auffälligkeiten im Essverhalten sind Phänomene, die bei Mädchen und jungen Frauen häufig sind, ohne Krankheitswert. Entsteht daraus ein rigides, zwanghaftes Essverhalten und wird die Beschäftigung mit der eigenen Figur und dem Körpergewicht zwanghaft, so kann dies zu einer klinisch relevanten Essstörung führen, die chronisch und gefährlich werden kann.
Erst seit den 1960er-Jahren wurden die Essstörungen systematisch erforscht. Menschen, die dies entwickeln oder bereits daran leiden, fühlen sich nie gut genug. Sie sind besessen von Kontrolle und streben bewusst oder unbewusst nach Perfektion auf allen Ebenen. Auch fühlen sie sich innerlich leer und möchten diese Leere „stopfen“. Ein Gefühl innerer Leere ist ein typisches Symptom einer Depression. Jede zweite Patientin mit Essstörung leidet denn auch an einer Depression, an Angst, innerer Leere, Sinnlosigkeit, an Traumen, Verlustangst, Unsicherheit, Identitätsverlust u.v.a.  Dies sind Merkmale, die sowohl für Essstörungen, als auch für Depressionen typisch sind. Es wird ein tiefer seelischer Schmerz empfunden, der bei beidem ähnlich ist. Liegt eine Depression vor, so besteht zudem eine ängstliche, melancholische Stimmung, Müdigkeit, Erschöpfung, Reizbarkeit, fehlende Unternehmungslust (Antriebsstörung), Schlafstörungen Stimmungsschwankungen, ein Gefühl der Leere, unwichtig zu sein und ein unberechtigtes, quälendes Schuldgefühl.
Die Essstörungen haben verschiedene Ausprägungen. Man unterscheidet die „Anorexia nervosa“ von der „Bulimia nervosa“. Zu den zentralen Symptomen dieser beiden Essstörungen gehören eine ausgeprägte Angst vor dem Dickwerden, eine Gewichtsphobie, ein gezügeltes Essverhalten und eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers, des eigenen Körperschemas. Dies kann so weit führen, dass das Selbstwertgefühl der Patientinnen und Patienten fast nur noch vom Körpergewicht abhängt. Gelangt das Körpergewicht bis oder unter einen Body Mass index (BMI) von 17,5kg/m2, so ist dies als „Anorexie“ definiert (altgriechisch: ὄρεξις = orexis oder „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“).
Das wichtigste Merkmal einer Anorexia nervosa ist die Störung des Selbstbildes und des Selbstwertgefühls. Unabhängig vom tatsächlichen, viel zu niedrigen Gewicht, wird der Körper als zu dick empfunden. Mit ihren Augen verfolgen die Patientinnen dünne Frauen, mit Beinen „wie Stäbchen“ und eingefallenen Wangen und beneiden sie. Die Illusion der Selbstwahrnehmung unterscheidet die Anorexia nervosa ganz eindeutig von allen anderen Arten von Magersucht, wie der konstitutionellen, der krankheitsbedingten oder der altersbedingten Magersucht. Die Patientinnen sondern sich seelisch ab. Oft beschreiben Mitmenschen sie als unnahbar, als ob unter einer Glasglocke. Diese seelische Isolation ist ein Zeichen grosser seelischer Not und Krankheit.
In der Regel sind die Patientinnen sehr ehrgeizig, sehr leistungsorientiert. Damit kämpfen sie um ihr Selbstvertrauen. Ständig kreisen ihre Gedanken um ihr Aussehen, ihr Gewicht, um die Ernährung, um ihren Selbstwert, um andere, welche ihren Idealvorstellungen scheinbar nahe kommen. Sie fühlen sich anders, irgendwie besonders und sondern sich innerlich ab, auch wenn sie mitten unter Menschen sind.

Die zentrale seelische Ursache der Illusion in der Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer selbst bei der Anorexia nervosa ist Neid. Neid wurzelt ganz früh in der Entwicklung eines jeden Menschen. Bei Eifersucht geht es um drei Personen, um ein Gefühl, von einem Dritten, einem Elternteil oder einem Chef, weniger geschätzt zu werden al jemand anderer. Beim Neid gibt es nur zwei Personen: der Neidische und der Beneidete. Neid entsteht ganz früh in der kindlichen Entwicklung, in den ersten Lebensmonaten, wo der Säugling das Gegenüber, sein  „Objekt“ noch nicht als Ganzes erkennen kann, wo er noch meint, sein ganzes Schicksal hänge allein von ihm ab. Es ist die Zeit, wo auch die Schizophrenie ihre Wurzeln hat. Dem entsprechend weist die Anorexia nervosa auch schizoide Züge auf. Neid ist tödlich. Bei der Anorexia nervosa drückt sich dies in der Gewalt gegen sich selbst aus, in der Selbstzerstörung, an welcher jede Fünfte ihr Leben verliert.
Neid durchdringt die ganze Gesellschaft, er ist der Motor der Wirtschaft. Im Streben der Menschen nach Macht, besser zu sein, den Anderen, die andere Firma, das andere Volk zu vernichten. Jedes Verlangen mehr zu haben als man zum Leben braucht, reicher zu sein als die Anderen, erklärt sich durch Neid. Die Reklame, die Mode basiert auf Neid, schöner, schlanker, eleganter zu sein. Die Welt der Werbung ist voll von Bildern abgemagerter, junger Frauen, mit möglichst schmalem Gesicht und eingefallenen Wangen. Besonders gefährdet eine Pubertätsmagersucht zu entwickeln, sind Mädchen, die Ballettschulen besuchen oder Eiskunstlauf. Da geht es nur um Eleganz, Schlankheit, Leichtigkeit, Vergleich und Leistung. Die Redaktoren von Mädchenzeitschriften für Teenager sind erfüllt vom kommerziell motivierten Wunsch, die Mädchen für solche Ideale zu gewinnen. Neid der Männer auf Frauen ist nicht neu. Er ist die Wurzel jahrtausendealter Unterdrückung der Frauen und der Verweiblichung des Selbstbildes vieler Männer. So leben die Röcke und Perücken der Barockzeit heute bei manchen jungen Männern wieder auf, als Pferdeschwänze und Haarknoten. Neid ist die Ursache jedes Strebens nach Macht, die Ursache kleiner und grosser Kriege, von gewalttätiger Zerstörung, Ausgrenzung, Tod, von unsäglichem Leid.
Essstörungen und die Anorexia nervosa sind  heilbar. Doch nur wenn man berücksichtigt, dass wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass die falsche Wahrnehmung der eigenen Gestalt nicht nur seelisch bedingt ist, sondern dass sie in einem für diese Krankheit ganz spezifisch veränderten Mikrobiom der Darmbakterien verankert ist. Das Genom der Darmbakterien ist viel grösser als unser eigenes Erbgut und wirkt genauso wie die eigenen Gene auf unser Gehirn und unsere Seele ein. Darum heilt die Bulimie und die  Anroexia nervosa nur unter der Bedingung dauerhaft aus, dass man, zur Psychotherapie hinzu, das schwer kranke Mikrobiom der Patientinnen ausheilt, durch eine konsequente Diät mit vegetabiler Frischkost (Rohkost) über viele Monate. Die Patientinnen nehmen diese Diät gerne an, da die Blähungen und die vielen anderen Beschwerden bald zurückgehen und die Essanfälle sich legen. Dabei korrigiert sich allmählich auch das falsche Selbstbild, das Körpergewicht und der Neid auf andere und entsteht ein neues, gesundes Selbstvertrauen. Eine Therapie, die sich lohnt.

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