Der fünfte Sinn

Dr.med. Andres Bircher
Berührung ist taktile Wahrnehmung. Berühren dient dem tastenden Begreifen (Haptische Wahrnehmung). Hierfür sind wir mit über einer Milliarde Rezeptoren und Nervenendugungen ausgestattet.

In unserer Körperoberfläche nehmen diese ständig Berührungen, Druck, Vibrationen und jegliche Dehnung der Gewebe wahr. Propriozeptoren ermöglichen eine hochempfindliche Tiefenwahrnehmung, melden die Stellung der Gelenke zum Gehirn und die Lage unseres Körpers im Raum. Sie nehmen Bewegungen wahr und ermöglichen deren Steuerung (Kinästhesie). Viszerorezeptoren informieren über die Tätigkeit innerer Organe, Thermorezeptoren über jede Änderungen der Temperatur. Nozizeptoren melden jegliche Schädigung von Gewebe unseres Körpers als Schmerz in unser Bewusstsein.  Allein die Zahl der Rezeptoren der Haut wird auf 300 bis 600 Millionen geschätzt. Vater-Pacini Körperchen registrieren Vibrationen zwischen 40 und 300 Hz, Meissner Körperchen feinste Druckveränderungen, Merkel-Zellen anhaltende senkrechte Druckreize, Ruffini Körperchen jegliche Dehnung von Gewebe. Im zarten Bindegewebe endende freie Nervenendigungen melden jeglichen Schaden über schnelle Aδ-Nervenfasern als grellen Schmerz, der uns sofort reagieren lässt und über langsamere C-Fasern als dumpfen, chronischen Schmerz, der dauernd uns sagt, wo etwas nicht in Ordnung ist. In der grauen Substanz des Rückenmarks, in Gelenken und Synapsen des vegetativen Nervensystems gibt es Rezeptoren für Endorphine, körpereigene Opiate, welche die Empfindung von Schmerz unterdrücken, so dies notwendig ist. Pacini und Ruffini-Körperchen sind nicht nur in der Haut, sondern auch im Bindegewebe, in den Gelenken, der Muskulatur und in den inneren Organen vorhanden. Hinzu kommen Golgi-Dehnungsrezeptoren in den Sehnen und Muskelspindeln und jedes Einzelne der auf etwa 5 Millionen geschätzten Körperhaare ist mit etwa 50 Berührungssensoren bestückt, welche geringste Bewegungen registrieren. Die Zahl freier Nervenendigungen der obersten Schichten der Haut wird auf 2x1012  geschätzt. Sie melden jeglichen mechanischen Reiz, Temperaturveränderungen und feinste Verletzungen.

All diese komplexen Wahrnehmungen werden über die hinteren Nervenbahnen (afferente senorische Bahnen) des Rückenmarks zum Thalamuskern des Mittelhirns geleitet, von wo sie verschaltet, gewichtet und sortiert zur Grosshirnrinde gelangen, zu Nervenzellen (Neuronen), die in einer grossen Windung hinter der grossen seitlichen Furche der Gegenseite wie ein auf dem Kopf stehendes Männchen angeordnet sind (sensorischer Homunculus im Gyrus postzentralis, SI-Areal). Von dort gehen zur weiteren Verarbeitung Bahnen zum hinteren Seitenlappen (Parietalcortex, Brodmann-Areale, B5 und 7, SII-Areale) und von da zu Arealen bei den Schläfen (B22, 37,39,40), zur Insula und zu den Stirnlappen. In all diesen Arealen werden all diese unendlich vielfältigen Wahrnehmungen zu einem Meisterwerk entschlüsselt, zu einem Ganzen verbunden und dem Bewusstsein zugänglich gemacht.

Schon ab der 6. Woche nach der Befruchtung hat der Fetus einen Tastsinn. In der Kindheit ist ständiges Berühren und Ertasten für die Entwicklung des Begreifens der Welt und seiner selbst, der kognitiven Intelligenz von entscheidender Bedeutung.

Berührung vertieft die Beziehung der stillenden Mutter zu ihrem Kind. Es stimuliert die Bildung des Proteohormons Oxytocin in Kerngebieten des Hypothalamus (Nucleus paraventricularis und supraopticus), das im Hinterlappen der Hypophyse (Hirnanhangdrüse) ausgeschüttet wird. Oxytocin beeinflusst nicht nur das Verhalten zwischen Mutter und Kind, sondern unsere sozialen Beziehungen überhaupt. Es wird durch jede Art angenehmen Hautkontaktes, durch Wärme, Berührung mit einem sympathischen Menschen, durch streicheln und massieren ausgeschüttet. Auch angenehme Gedanken und Gefühle oder das Singen aktivieren neuronale Netzwerke des Stammhirns und führen zur Ausschüttung von Oxytocin. Dieses fördert Vertrauen und Ruhe, vermindert Beziehungsängste und vertieft die Bindung zu Menschen, die unser Vertrauen verdienen.  Werden wir dagegen durch einen Menschen berührt, dem wir nicht vertrauten, hinterlässt dies tiefe Angst, Furcht vor Menschen und wenn es mit Absicht geschah, Ekel vor Berührung. Solche Übergriffe verletzen tief und sind schwer zu heilen. Fehlte eine liebevolle Berührung durch die Eltern, wird Berührung als unangenehm empfunden, bis wir einen Menschen finden, dem wir ganz vertrauen können. Dann wird mit ihm Zärtlichkeit möglich. Vertrauen entsteht, wo wir verstanden werden und wenn wir verstehen. Verstehen ist Liebe. Vertrauen stets ernst zu nehmen ist eine Achtsamkeit, die sich lohnt.

Tipp:
Notieren Sie sich Namen von Menschen, denen Sie ganz vertrauen können und konnten, dann Namen von Menschen, wo Ihr Vertrauen fehlt. Dann die Zeichen und Gründe, an denen Sie erkennen können, ob Sie jemandem vertrauen können oder nicht. Vertrauen kann man nicht schenken, es muss erworben werden.

Handbuch 4 | Ordnungsgesetze