In Würde älter werden

Dr. med. Andres Bircher
Der Begriff der Menschenwürde ist in ständiger Wandlung begriffen. Gar manche verstehen unter Würde die Fähigkeit, das Leben selbst zu bestimmen.

Doch wie steht es um die Würde des Embryos, des Fetus, des Kindes, um die Würde schwer behinderter oder geisteskranker Menschen, um unsere Würde bei schwerster Krankheit oder im Alter, wenn auf Hilfe und Pflege wir angewiesen sind? Wie steht es um die Würde von Tieren? Wie sehen wir die Würde eines Adolf Hitler und seiner Generäle, eines Pinochet und ähnlicher mordender Diktatoren, der Würde junger Menschen, die zu Terrormilizen werden und derjenigen, die dies durch Arroganz und Demütigung verschuldet haben?

Über Jahrtausende hatten geistliche und weltliche Würdeträger als «Hochwürden», die Menschen geknechtet, gekränkt und ausgebeutet, nur weil durch Zufall sie «hochgeboren» waren. Über Jahrhunderte wurden Freiheit und Menschenrechte hart erkämpft. So entstanden im alten Ägypten die 10 jüdischen Gebote, an welche die einfachen Menschen sich zu halten versuchten, viel weniger die «hochwürdigen» Herrscher. Dann haben Philosophen der französischen Aufklärung die «Menschenrechte» formuliert, um endlich den Befreiungskampf gegen die feudale Unterdrückung und Sklaverei zu zünden. Da ging es um Gerechtigkeit, um Wert und Würde eines Jeden, um ein ganz neues Gut, dem heute wir nur allzu leichtsinnig und unachtsam entgegentreten, besonders dann, wann die Wirtschaft zur Religion geworden ist.

Nur in der Dualität lässt sich «Menschenwürde» begreifen. Töten und getötet werden, oder kränken und gekränkt werden sind Gegensatzpaare, aber dieselben Themen, derselbe Akt gegen die Würde des Menschen, in aktiver oder passiver Form. In dieser Dualität liegt das tiefe Leid manch junger Mutter, die einst in grosser Not vom ungeborenen Kind sich trennte. Nur in dieser Dualität kann man verstehen, wie gekränkte Kinder oder die Seelen gekränkter Völker zu Mördern werden. Hier geht es um die Würde des Lebens, das wir nicht geschaffen haben, um Achtung und Respekt vor den Wundern der Schöpfung. So kam in seinem kurzen Leben Paracelsus von Hohenheim zur Einsicht, dass der Mensch mit seiner Intelligenz als Geburtshelfer der noch unvollkommenen Schöpfung geschaffen wurde. Würdig sind wir, wenn wir allem Lebendigen mit Respekt und Würde begegnen. Werden wir alt, so sind wir auf Tod und Leben darauf angewiesen, dass die Menschen, die uns begegnen dies tun, dass sie uns helfen und uns mit Würde und Respekt betrachten und behandeln.

Bedürfen wir der Pflege, so stehen die Beziehungen in der Familie, zu den Angehörigen, auf der Probe. Viel wird von Liebe gesprochen, gepredigt und geschrieben. Und wenn man dann frägt, was denn Liebe eigentlich sei, besteht meist Ratlosigkeit. Einst schrieb Matthias Claudius: «wir sind nicht dort zu Hause, wo unser Domizil ist, sondern da, wo wir verstanden werden.» Wer uns versteht, dem dürfen wir Vertrauen. Wenn wir andere verstehen, verdienen wir Vertrauen. Die Erfahrung alt zu werden lehrt uns neu die Erkenntnis, dass im Grunde wir nur zwei Bedürfnisse haben: Sicherheit und verstanden zu werden. Dann können wir immer klarer erkennen, dass Liebe nichts Anderes sein kann, als zu verstehen und verstanden zu werden. Wenn wir einen alten, leidenden Menschen verstehen, so lieben wir ihn, wenn wir von anderen verstanden werden, werden wir geliebt. Wenn es uns gelingt, uns selbst zu verstehen, sind wir daran, uns selbst zu erkennen, zu achten und zu lieben.

Zu lange haben wir oft alten Werten, wirtschaftlichem Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen nachgelebt. Das Alter bringt uns die tiefen Bedürfnisse und Werte zurück. Noch ist es nicht zu spät, gar manches nachzuholen, wieder gut zu machen. Wir können erkennen, wiewohl es tut, bedürftige Menschen zu achten und ihnen zu helfen. Im neuen Verständnis für die Anderen erhalten wir einen neuen Wert, eine neue Würde, die sich lohnt; Und jetzt dürfen die vielen Falten sein, in die sich das Leben gegraben hat, die Zeichen der Weisheit, Lebenserfahrung und Würde.

Tipp:
Fragen Sie junge Menschen, Ihre Kinder, Ihre Pflegenden nach ihrem Wert. Fragen Sie sie, was Sie ihnen bedeuten. Erzählen Sie ihnen aus ihrem Leben, vom Krieg, von früheren Zeiten, scheuen Sie sich nicht, auf Ihre grosse Erfahrung stolz zu sein und sie mit den Jungen zu teilen, auch wenn nicht immer sie danach fragen.

Ordnungsgesetze | Vom Werden des neuen Arztes | Handbuch 4