Wenn es nie mehr still um uns wird

Dr.med. Andres Bircher
In einer Studie in schallisoliertem Raum nahmen 94% von 80 hörgesunden Menschen nach 5 Minuten Ohrgeräusche wahr, die sonst unterdrückt sind. Hört man im Alltag andauernd Pfeifen, Zischen, Knacken, Rauschen, Klopfen, Pulsieren oder Brummen, ist dies Tinnitus.

Nur selten ist er mit Geräten messbar (objektiver, vibratorischer Tinnitus). Ansonst handelt es sich um Phantomgeräusche (nicht-vibratorischer Tinnitus).  Tinnitus kann als eigenständige Krankheit auftreten oder Symptom einer Krankheit sein. In den  Industrieländern hat er massiv zugenommen. Heute leidet jeder siebte Deutsche an Tinnitus und bei jedem Vierten tritt er irgendwann im Laufe des Lebens auf. Man spricht von einer Volkskrankheit.

Die Ursachen sind vielfältig. Meist liegt ein vermindertes Hörvermögen vor. Pulsiert es,  findet man nicht selten Gefässanomalien, die manchmal operiert werden können. In jedem Fall ist eine sorgsame Abklärung angezeigt. Die häufigsten Ursachen sind Schall-, oder Knalltruman oder etwa ein Tauchunfall, oder schlecht ausgeheilte Entzündungen des Mittelohrs oder Gehörgangs, virale Infektionen oder etwa eine Borreliose, Zahnwurzelabszesse, Medikamente wie Loratadin oder ototoxische Antibiotika (Gentamycin). Auch die so oft verschriebene Salicylsäure kann Ohrgeräusche hervorrufen. Tinnitus kann Vorzeichen einer Menièreschen Krankheit sein oder die Folge eines Akustikusneurinoms, eines Tumors des Gehörnerven oder einer Autoimmunkrankheit des Innenohres, eines Hydrops cochleae (Abflussstörung der Endolymphe der Gehörschnecke), eines sich ablösenden Bogengangs im Labyrinth (Gleichgewichsorgan) oder seltener auch eines banalen verkrusteten Gehörgangspfropfs. Fremdkörper oder Narben können, selbst bei grosser Entfernung  irgendwo am Körper, Tinnitus hervorrufen.  Objektivierbaren (messbaren) Tinnitus findet man bei Bluthochdruck, Gefässmissbildungen, Belüftungsstörungen der Paukenhöhle und bei verschiedensten neurologischen Krankheiten. Die gepulste Hochfrequenzstrahlung des Mobilfunks, drahtloser Telefonie und Computer erzeugt  Tinnitus, Hirntumoren und Demenz.

Noch gibt dieses Phänomen viele Rätsel auf, denn ein vorbestehender Tinnitus pflegt nach Durchtrennung des Hörnervs, etwa zur Entfernung eines Tumors, weiter zu bestehen, ähnlich eines Phantomschmerzes nach einer Amputation. Hieraus schliesst man, dass der Tinnitus gar nicht im Gehörorgan selbst entsteht. Vielmehr findet man eine typische Veränderung der Aktivität gewisser Gehirnareale. So vermutet man, dass das Gehirn versucht, die Hörstörung zu kompensieren, indem es die Aktivität seiner Hörbahnen hochreguliert, was als Phantomgeräusch wahrgenommen wird. Aus neuropathologischer Sicht macht man zudem einen fehlerhaften Umbau des Gehirns als Ursache verantwortlich, eine pathologische „Verkabelung“ der Verbindungen zwischen den Nervenzellen in der Hörrinde des Gehirns. Dabei glaubt man, dass die Neurone nicht mehr durch diejenigen Frequenzen erregt werden, denen sie zugeordnet sind, sondern durch Nervenzellen ihrer Nachbarschaft. Dem zufolge  versucht man durch Hören frequenzgefilterter Musik oder eines Breitbandrauschens den Tinnitus abzuschwächen  oder durch eine Kombination aus Tönen von Nachbarfrequenzen bei gleichzeitiger Vagusstimulation.

Je länger Tinnitus besteht, desto eher wird er bleiben. Vielfältig sind die Therapieangebote, umstritten deren Wirkung. 60 Millionen Euros werden in Europa jährlich für Infusionstherapien mit Cortisonpräparaten, Vitamin E, Magnesium,  oder durchblutungsfördernden Mitteln ausgegeben, von deren Wirkung man in den U.S.A. nichts hält. Für Medikamente, die in den Haushalt der zerebralen Botenstoffe eingreifen, wie Racoverin, Flupirtin, Glutaminsäure, Memantin und Neramexan, fehlt jeder Wirkungsnachweis. Therapien mit Tocainid, Carbamazepin (Tegretol), Gabapentin oder Antidepressiva zeigen keinen anhaltenden Erfolg. Dagegen kann die kognitive Verhaltenstherapie, bei der man lernt, den Tinnitus durch „Weghören“ weniger wahr zu nehmen, Erleichterung bringen, so auch Qigong, autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Hypnose, Klangtherapien oder die Tomatis-Methode, bei welcher der Patient Musik hört, die in geeigneter Weise akustisch veränderte wurde . Liegen Kieferverspannungen vor (Kraniomandibuläre Dysfunktion, CMD), versucht man das Kiefergelenk durch eine Distraktionsschiene zu entlasten.  Die Wirkung der Low-LASER-Therapie wird widersprüchlich beurteilt, so auch die Wirkung des Ginkgo biloba.

Nach unserer Erfahrung gibt es Grund zu Hoffnung bei Tinnitus. Durch eine sorgsam explorierende Neuraltherapie mit Procain kann sowohl der Tinnitus, als auch die Hörfähigkeit beeinflusst werden, bei gleichzeitiger Verbesserung der Sauerstoffversorgung und Mikrozirkulation in der Cochlea und im Gehirn durch vegetabile Frischsaftdiät und eine hochdosierte antioxydative Infusionstherapie mit Glutathion, Vitamin C, Alpha-Liponsäure, neurogenen Aminosäuren und Coenzym Q10. Diese Therapie regeneriert die Mitochondrien der Neurone  und verbessert sowohl den Hirnstoffwechsel, als auch die Zellenergie. Eine Therapie, die sich lohnt.

Tipp:
Schützen Sie Ihre Ohren beim Umgang mit Maschinen Hämmern oder lauter Musik. Verringern Sie die Strahlung Ihres Handys durch einen Kopfhörer und telefonieren Sie so selten und kurz wie nur irgend möglich.

Handbuch 4 | Ordnungsgesetze